Abstracts zu den Vorträgen am 16.11.2018
Prof. em. Dr. Dieter Langewiesche (Tübingen)
Nation – Nationalstaat – Imperium
Entwicklungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert
Ohne Krieg kein Nationalstaat – diese martialische Kriegsregel kennt bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts in Europa nur zwei Ausnahmen: Norwegen und Island. Warum war das so? Um diese Frage zu beantworten, ist es hilfreich zu erörtern, welche unterschiedlichen Wege zum Nationalstaat wir historisch kennen. Dazu wird der Vortrag eine historische Typologie entwickeln. Damit verbunden wird die Frage nach dem Verhältnis von Nationalstaat und Imperium. Nationalstaaten sind aus Imperien hervorgegangen, und sie haben Imperien gebildet. Auch dies ist meist in Kriegen geschehen. Und schließlich wird gefragt, warum der Nationalstaat bis heute so attraktiv ist. Dazu wird skizziert, welche Rolle der Idee Nation in den Prozessen zukam, die zum Nationalstaat führten. Vor diesem historischen Hintergrund soll abschließend gefragt werden: Was war im glücklichen Skandinavien anders in der letzten Phase nationalstaatlicher Sezession?
Dieter Langewiesche ist emeritierter Prof. für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Tübingen. Er ist einer der führenden Experten für die Geschichte des Nationalismus und des Liberalismus und hat für seine Tätigkeit zahlreiche renommierte Auszeichnungen erhalten.
Prof. Dr. Stephan Michael Schröder (Köln)
Island: schon im Mittelalter eine Nation?
Unter Rückgriff auf Forschung zu kollektiven Identitätskonstruktionen und zur Geschichte des Konzeptes ›Nation‹ wird in dem Vortrag untersucht, ob die Isländer im Hochmittelalter eine kollektive Identität herausgebildet hatten und in welchen Parametern diese gegebenenfalls zu beschreiben ist. Quellentexte legen nahe, dass vor allem auf zwei Prinzipien, Territorialismus und Funktionalismus, rekurriert wurde, wenn über isländische Identität geschrieben wurde. Island war zweifellos – schon wegen seiner Königslosigkeit – eine politische Anomalie. Aber war Island deshalb bereits im Mittelalter eine Nation – oder sollte man doch besser von einer ethnischen statt von einer nationalen Identität sprechen?
Stephan Michael Schröder ist Professor für Skandinavistik an der Universität zu Köln. Seine Schwerpunkte bilden die skandinavische Kultur-, Literatur- und Mediengeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts.
Prof. Dr. Guðmundur Hálfdanarson (Reykjavík)
'Never give in'! Jón Sigurðsson's legacy and Icelandic ideas on nationality and the nation state
In Icelandic political history, the archivist Jón Sigurðsson (1811-1879) is generally seen as the intellectual father of Icelandic nationalism. His uncompromising rhetoric in the debates with the Danish government was legendary, as we can see from a signet ring donated to him in 1851, with the engraved motto "Never give in!" (Eigi víkja!"). When we read Sigurðsson's correspondence with his friends, including Konrad Maurer, we gain a more nuanced picture of his views and political strategies. In the lecture I will discuss Jón Sigurðsson's ideas and his legacy in the context of the history of European nationalism and the formation of the Icelandic nation-state.
Guðmundur Hálfdanarson ist Inhaber der Jón-Sigurðsson-Professor für Geschichte an der Universität Islands. Ein Hauptschwerpunkt seiner Forschungstätigkeit ist u.a. Geschichte und Theorie des Nationalismus.
Prof. em. Dr. Dieter Strauch (Köln)
Konrad Maurer als auswärtiger Förderer isländischer Unabhängigkeit
Auf Anregung seiner akademischen Lehrer widmete sich Konrad Maurer den altnordischen Quellen, schrieb 1852 ein Buch über die Entstehung des isländischen Staates und 1856 einen bald ins Isländische übersetzten Aufsatz über Islands Verhältnis zu Dänemark. Nach gründlicher Vorbereitung bereiste er 1858 monatelang Island und machte sich mit ihm näher bekannt, so dass er dessen Freiheitsstreben sachlich begleiten und gutachtlich in vielen Aufsätzen unterstützen konnte. 1874 nutzte er die 1000-Jahrfeier des isländischen Freistaates, indem er in seinem Buch „Island“ den jahrhundertelangen Kampf der Isländer um ihre Unabhängigkeit beleuchtete. Mit seinem Aufsatz von 1880 „Jón Sigurðsson“ krönte er dessen Einsatz für die isländische Freiheit, indem er die lebenslange Arbeit dieses mutigsten Streiters für das große Ziel würdigte.
Dieter Strauch ist emeritierter Professor für Rechtsgeschichte an der Universität zu Köln mit Schwerpunkt auf bürgerlichem Recht, deutscher und nordischer Rechtsgeschichte.
Sigrún Gylfadóttir M.A. (Reykjavík)
Konrad Maurers Bedeutung für die isländische Volkskunde
In dem Vortrag, der auf meiner Masterarbeit basiert, werde ich über Konrad Maurers Anteil an der Herausgabe der isländischen Volkssagensammlung, Íslenskar þjóðsögur og æfintýri, in den Jahren 1858 bis 1864 sprechen. Maurer lernte die isländische Sprache und besuchte Island im Jahre 1858, wo er u.a. einige einheimische Volkssagen aufschrieb. Auf dieser Reise lernte er Jón Árnason kennen und bereits damals entstand der Gedanke gemeinsam eine größere Sammlung isländischer Volkssagen herauszugeben, für die Maurer einen Verleger in Deutschland finden sollte. Die Sammlung erschien in zwei Bänden in den Jahren 1862 und 1864. Jón sorgte für das Sammeln der Sagen in Island und schickte sie dann an Maurer, der sich aller Aufgaben bezüglich der Herausgabe in Deutschland annahm. Maurer war das Bindeglied zwischen Jón und dem Verlag und war außerdem mit dem Lesen der Korrektur beauftragt. Die Korrespondenz der beiden macht aber auch deutlich, dass er Jón mit diversen anderen Aspekten der Herausgabe half. Maurer war in diesem Forschungsgebiet bereits erfahren. Deshalb konnte er Jón nützliche Ratschläge geben und ihn überzeugend motivieren. Das Ergebnis meiner Untersuchung war, dass Maurers Beitrag zu Íslenskar þjóðsögur og æfintýri in der Tat größer war als bisher angenommen.
Sigrún Gylfadóttir ist Ethnologin und hat in ihrer Masterarbeit in der Europäischen Ethnologie die Bedeutung Konrad Maurers für die Herausgabe der isländischen Volkssagen im 19. Jh. erforscht.
PD Dr. Alessia Bauer (München)
Sprachpolitik als Mittel für die politische Selbständigkeit
Während im 19. Jh. die politische Debatte um die Unabhängigkeit Islands entbrannte, versuchte man an verschiedenen Fronten Erfolge zu verbuchen. Die Partie spielte sich nicht nur auf dem diplomatischen Parkett ab, sondern auch auf der kulturellen Ebene. Nach einigen Jahrhunderten, in denen Sprache und Kultur von der ‚Kolonialmacht‘ stark beeinflusst worden waren, besann man sich auf die alten Traditionen und sehnte sich wieder nach den Ursprüngen. Sprachpolitik und -pflege wurden zu einem der Mittel für die Bekämpfung des ‚Fremden‘: Die zahlreichen Danismen wurden aus dem Isländischen getilgt und durch rein isländische Wörter ersetzt, altnordische Lexeme wurden schließlich mit neuen Bedeutungen versehen und wieder eingeführt. Es war die Geburtsstunde eines neuen Mythos, nämlich jenes der isländischen Sprache als ununterbrochenes und unverändertes continuum von ihrem Beginn bis zur Moderne.
Im Vortrag werde ich versuchen, in aller Kürze den Prozess der Entfremdung in der Frühneuzeit sowie der erneuten ‚Islandisierung‘ der Sprache am Ende des 19. Jh.s zu skizzieren.
Alessia Bauer ist Oberassistentin am Institut für Nordische Philologie der Universität München. Ihre Schwerpunkte sind die Erforschung der Schriftkultur, die Runologie und das alte und das neue Island.